„Eine Art Paradies“: Interview mit Ralph Dohrmann

„Die Dosis macht das Gift.“

Heute sprechen wir mal über Entschleunigung. Ralph Dohrmann ist auf dem Gebiet Experte, wenn mich nicht alles täuscht. Vor einem guten Monat hätte das Interview mit ihm erscheinen sollen, jetzt ist es da. Hurra, hurra! Allerdings ohne die zusätzlich von Euch gestellten Fragen. Gemach, Leute, wir haben Zeit. Eins nach dem anderen.

Es geht um das Buch „Eine Art Paradies“, das uns von einem Leben ohne Internet erzählt.

Ich wollte das Interview eigentlich handschriftlich machen, zumal das Buch in alter Rechtschreibung geschrieben ist und ich handschriftlich noch nach den alten Regeln schreibe. Da dies aber niemandem nützt, der sich durch unsere Sauklauen wühlen muss, hier das Interview in lesbarer Form:

Herr Dohrmann, in Ihrem Buch geht es um das Leben ohne Computer. Welche Rolle spielen handschriftliche Aufzeichnungen bei Ihrer Arbeit? 

Ich schreibe seit einigen Jahren am Bildschirm, weil diese Art mir mehr Vor- als Nachteile bietet. Aber: Erste Entwürfe entstehen meistens mit der Hand, und während der Arbeit an einem Buch mache ich mir ständig handschriftliche Notizen (Szenen, unbestimmte oder bestimmte Gedanken, Aphorismen usf.), so dass auch diese Art nach wie vor eine große Rolle spielt.

Ich lese aus dem Buch, dass Internet und Smartphones unser Leben zwar verändern, letztlich aber unser eigenes Handeln unser Schicksal bestimmt. Sollten wir abstinenter leben?

Natürlich sollten wir abstinenter leben! Und zwar in allen Bereichen, weil nichts endlos zur Verfügung steht und die Umwandlung aller Rohstoffe in Müll sicher nicht die beste aller Möglichkeiten darstellt.

Um aber Ihre Frage zu beantworten: Die Dosis macht das Gift, und ich fürchte, dass die Dosis weltweit sehr sehr hoch ist. Und ich fürchte auch, dass die Zahl derjenigen, die gar nicht mehr wissen wollen wie eine Welt ohne Internet oder Smartphone aussieht, sehr sehr hoch ist. Wahrscheinlich ist es mit der digitalen Revolution ähnlich wie mit anderen revolutionären Erfindungen in der Menschheitsgeschichte (z. B. Schrift, Buchdruck oder Dampfmaschine): Sie verändern unumkehrbar Wahrnehmung und Wirklichkeit und entwickeln eine Eigendynamik, die noch auf Bereiche einwirkt, die auf den ersten Blick weder etwas mit der eigentlichen Erfindung noch mit deren Wirkkräften zu tun zu haben scheinen.

Für eine Weile lässt sich Walter von Quant durch sein Smartphone aufscheuchen; bei seinem Problem hilft ihm aber nur der persönliche Kontakt. Das Smartphone verkommt zum überflüssigen Gadget. Ist das nicht zu einfach gedacht?

Warum zu einfach gedacht? In der Geschichte der Menschheit wurden persönliche Kontakte doch schon immer auch zum eigenen Vorteil genutzt. Das Wissen darum, aber auch ihre biologische Festlegung als soziale Wesen mit jeder Menge geistigem und emotionalem Potential lassen doch vermuten, dass die Menschen reale Kontakte den digitalen vorziehen würden.

Ich kann mir zu diesem Gedanken auch ein Bild vorstellen: Eine einen Meter lange Zeitleiste, die das Auftauchen und Wirken sowohl des Menschen (schwarz) als auch seiner Schöpfung, das Smartphone (weiß), markiert. Wenn ich diese Leiste vor mir sehe, erscheint sie mir völlig schwarz und das Auftauchen des Smartphones dort wäre kaum mehr als ein Fliegenschiss.

Aber vielleicht haben Sie auch recht, und ich denke viel zu einfach. Vielleicht lasse ich im Roman das Smartphone zum überflüssigen Gadget verkommen, während es in Wirklichkeit bereits eine Umwälzung in Gang setzt, die vielleicht noch nicht die biologische Festlegung des Menschen neu definiert, aber bereits sein geistiges und emotionales Potential. Und so leuchtet der Fliegenschiss womöglich schon auf der angedachten Zeitleiste; so wird er womöglich in kurzer Zeit schon die gesamte Entwicklungsgeschichte persönlicher Kontakte digital überstrahlen.

Laut Walter haben die Menschen Angst vor dem Alleinsein und suchen daher Ablenkung. Ich stimme ihm zu, dass die Welt friedlicher wäre, wenn jeder täglich seine Dosis Unterm-Baum-Sitzen absolvierte. Wie können wir das erreichen?

Aus ihrer Entwicklungsgeschichte heraus sind die Menschen nie Einzelgänger gewesen, die Gruppe war überlebenswichtig und selbstgewähltes Alleinsein so gut wie unmöglich. Fast die gesamte Zeit ihres Daseins mussten die Menschen täglich in einer Welt überleben, die nichts mit 40-Stunden-Woche, Zentralheizung oder Supermarkt zu tun hatte, und ich glaube, dass dieses Erbe nicht so einfach abzuschütteln ist. Menschen sind keine Einzelgänger; die Gruppe sichert das Überleben, sie mildert die Ängste, aus der Gruppe entspringt ein Wir-Gefühl.

Dass der Einzelne die Zeit und den Raum hat, sich intensiv mit sich selber zu beschäftigen, ist ein junges Phänomen. Und ein Phänomen, mit dem die Menschen – wahrscheinlich aus ihrer Determination heraus und auf Grund ihres großen Gehirns, das ja ursprünglich Überleben und Fortpflanzung in einer wilden Umgebung sichern sollte – weniger gut zurechtkommen. Das Alleinsein scheint nicht der menschlichen Natur zu entsprechen, und im Alleinsein wirft das große Hirn ständig Fragen auf und brütet Ängste aus.

Heutzutage, in Zeiten von Supermärkten und Überfluss, besteht die Herausforderung des Alleinseins kaum noch im täglichen Überlebenskampf, sondern vielmehr darin, mit sich selber zurechtzukommen. Die inneren Fragen und Ängste zu ertragen oder besser: zu überwinden. Aber das ist viel einfacher gesagt als getan. Umso mehr, da wir in einer Welt leben, in der  sich die Fragen und Ängste täglich potenzieren (am nächsten Tag keinen Parkplatz zu finden, Krieg, TTIP und Hundertausend andere Katastrophen, die ständig unsere Angst befeuern).

Ich glaube nicht, dass „wir“ es je schaffen werden, gewissermaßen eine friedlichere Welt einzurichten. Ich glaube, dass „wir“ an uns selbst scheitern; dass „wir“ längst eine Welt eingerichtet haben, die unsere Fragen und Ängste nicht nur verdrängt, sondern zerstört, weil sie einfach alles zerstört.

Immerhin kann sich jeder dazu entschließen, unter einem Baum zu sitzen. Eine Auszeit aus dem Irrsinn und den Katastrophen ringsherum zu nehmen. Jeder kann sich dazu entschließen in sich selbst hineinzuschauen; zu versuchen, mit den Fragen und Ängsten dort, mit den Räumen und der Stille umzugehen. Und ohne Ablenkung das Phänomen des Alleinseins in der Welt friedlich zu betrachten. Beziehungsweise unter dem Baum und den Sternen feststellen, dass Alleinsein auch immer relativ ist.

 

Gemälde Buch Stehpult

Buch auf Stehpult, unter den Augen der Vor-Vor-Vor-Smartphone-Generation

Die Kolonisten akzeptieren Walter ab dem Zeitpunkt, an dem er das Nachbarhaus kauft und abtragen lässt: Sie sehen, dass er Freunde hat. Warum haben Einsiedler es so schwer in der Gesellschaft?

Zum einen: Aus meiner Sicht akzeptieren die Kolonisten Walter ganz und gar nicht so eindeutig wie aus Ihrer Sicht. Und das freut mich, weil ich mich in dem Roman bemüht habe, Freiräume für Interpretationen zu lassen.

Aus meiner Sicht bleiben die Kolonisten Walter gegenüber skeptisch; einfach, weil er nicht teilnimmt an ihrem Leben und ihrem Wir-Gefühl. Weil er sich nicht dafür interessiert, sie so zu sehen, wie sie sich selber sehen wollen, weil sie kaum etwas davon wissen, was ihn ihm vorgeht, usf.

Dass die Kolonisten Walter auf der Abrissparty wie einen der ihren begrüßen, ist aus meiner Sicht weniger Akzeptanz als vielmehr Neugier. Eine Neugier, um später hinter Walters Rücken tratschen und gemeinsam Behauptungen errichten zu können – quasi ein kollektives Wahrheitsbollwerk gegen das, wovon sie in Wirklichkeit nichts wissen.

Zum anderen: Aus meiner Sicht haben es Einzelgänger (Worte des Tierarztes) bzw. Einsiedler (Worte des Pastors) noch nie so einfach gehabt wie in diesen Zeiten. Die Städte sind voll von ihnen, überall anonyme Einzelgänger, die sich vor niemanden – außer vor sich selber – für ihre Eigenart rechtfertigen müssen.

Aus meiner Sicht haben es viele dieser Einzelgänger weniger in der Gesellschaft als vielmehr mit sich selber schwer. Und ich glaube auch, dass viele von ihnen diese Lebensform nicht selbst gewählt haben und einsam sind. Dass sie sich aufgrund ihres biologischen Erbes (siehe oben, Frage 4) nach sozialen Kontakten sehnen, dass sie sich TV, Internet, Roboter, was auch immer ins Haus holen, um sich von dieser Einsamkeit abzulenken usw.

Wer sich aber wie Diogenes für die Tonne entscheidet, wer sich Buddha gleich entscheidet, den Luxus zu verlassen um abseits unter einem Baum zu sitzen, der macht sein Seelenheil nicht mehr abhängig von der Meinung anderer. Wer sich so entscheidet, der nimmt kein Smartphone mit in die Tonne und hockt auch nicht mit Kopfhörern unterm Baum. (Diogenes hätte heutzutage noch immer seinen Spaß, und Buddha könnte uns beibringen, wie wir die ganze Welt noch aus diesem riesigen Müllhaufen Erde heraus umarmen können.)

Als Leserin bekomme ich das Gefühl, dass dieses Buch unter dem Baum entstanden ist, unter dem es spielt. Sind Sie ein Meister der Täuschung oder ist an der Vermutung ein Fünkchen Wahrheit?

Ja, ich bin ein Großmeister der Täuschung. Ich ziehe mir das Rauschen der Blätter, den Zug der Kraniche und sogar die Milchstraße nur noch digital rein. Ich kenne nicht das Gefühl einer Erlebnissphäre in der Natur; ich empfinde keine Schönheit, Verbundenheit, Erfülltheit – nichts, sobald ich einmal in die Flusswiesen oder sonstwo in die Wildnis gerate. Ich brauche die Natur nicht. Ich habe die Natur überwunden, gezügelt und meinem Willen unterworfen und ich benutze sie nur noch, um sie dahingehend auszubeuten, was meinen Reichtum und mein Selbstwertgefühl vermehrt. Ich habe nichts mehr mit der Natur zu tun – ja, ich komme nicht einmal mehr aus ihr. Ich fühle mich als digitales Geschöpf; ich habe einen Datenhelm, ich habe einen Chip im Hirn. Ich kann jederzeit Raum und Zeit überwinden, ich habe die Evolution überwunden und mich selber – quasi als Gott der Nullen und Einsen, neu erschaffen. Und darum habe ich in dem Roman auch den schönen Satz (ist nicht von mir) eingebaut: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.

Wenn die Menschen schon nicht genug unter den Bäumen sitzen, sollten sie sich dann mehr empören? Sind sie eher ein Baumsitzer oder ein Empörer?

Zu Ihrer ersten Frage: Ja, sollten eigentlich alle Menschen. Schließlich geht es um sie selber, um ihre Lebensqualität, ihre Erfülltheit, ihr Glück. Es geht um ihre Heimat, um ihren Planeten. Aber warum empören sich nicht alle Menschen? Und wenn doch Empörung aufkommt, warum schlägt sie dann so häufig um in Wut, Hass und Zerstörung? In Rausch und Ablenkung? Warum gibt es in der Geschichte der Menschheit Kriege über Kriege? Warum wendet die Menschheit unendlich mehr Energie, mehr emotionales und geistiges Potential dafür auf, atomare Gefechtsköpfe für Raketen, Frackingmethoden, Smartphones oder Retro- und Vintageklamotten zu entwickeln? Warum läuft so vieles in der Entwicklung der Menschen so erschreckend aus dem Ruder? Warum gibt es Systeme? Warum gibt es Religionen? Warum geheim operierende Interessenverbände, Kartelle, Überwachung, Macht? Warum haben die großen Empörungen, die Aufstände und Revolutionen nicht das eingebracht, wovon so viele Menschen durch die Geschichte hindurch immer wieder geträumt haben?

Zu Ihrer zweiten Frage: Sowohl als auch. Manchmal sitze ich einfach da, und manchmal empöre ich mich – Empören, eher im von Quantschen Sinne, indem ich täglich mein eigenes Handeln reflektiere und mich entscheide, das eine zu tun und das andere lieber nicht. Erich Kästner hätte gesagt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Na ja. Auch wenn ich dabei oft genug meine Grenzen erfahren muss, bleibe ich da jeden neuen Tag am Ball.

Vielen Dank, Herr Dohrmann. Ich verneige mich vor dem Großmeister der Täuschung.