Flucht – vor 70 Jahren und heute

Dieses Blog ist entstanden, weil ich eine Motivation brauchte, die vielen, vielen Briefe aus dem Nachlass meiner Großmutter lesbar zu machen. Die eindrücklichsten dieser Briefe handeln von der Flucht. Eine Flucht über lächerliche 147 km, die trotzdem fast zwei Monate dauerte und ein Menschenleben kostete. Gestern vor 70 Jahren erhielt meine Großmutter nach Monaten der Ungewissheit ein Lebenszeichen von ihrem Mann Friedrich. Es sollte noch bis zum 17.9. dauern, bis sie ihm einen Antwortbrief schreiben würde.

Ich habe die Kladde dieses Briefes vor mir liegen. Er ist sehr sachlich. So sachlich, dass es mich schüttelt. Ich werde ihn am 17. veröffentlichen.

Ganz und gar nicht sachlich ist der Umgang mit denjenigen, die jetzt auf der Flucht sind. Es geht um Fluchtmotive und ob sie richtig oder falsch sind. Oder gerechtfertigt. Ich habe meine Heimat oft verlassen, aber niemals musste ich es tun. Ich konnte immer zurück. Jederzeit.

„Teach me Dari“, sagte ich gestern zu meinen afghanischen Freunden, Bewohner der hiesigen Erstaufnahme.

„Why do you want to learn Dari?“, fragt Z. „I wouldn’t advise you to go to Afghanistan on holiday.“

„Maybe one day“, sagt M. verhalten.

Z. rollt mit den Augen und schüttelt den Kopf. M. lächelt schief. Seine Frau und vier Kinder hat er zurückgelassen. Wir haben uns darüber unterhalten, wie es ist, wenn die Nachbarn zu Taliban werden. Wenn man seinen Freunden nicht mehr trauen kann.

Die Fluchtgeschichten, die ich in den letzten Tagen gehört habe, sind nicht zu ertragen. Aber natürlich ertrage ich sie. Diejenigen, die sie erlebt haben, ertragen sie schließlich auch. Einige haben mehr Glück gehabt als andere, M. macht sich über Z. lustig, der Monate für eine Strecke brauchte, die M. mit viel weniger Investitionen in wenigen Tagen überwinden konnte. Z. erzählt seine Geschichte wie eine Komödie. Wie er die Grenze zwischen Serbien und Ungarn überquerte, sein Handyakku alle war und er die Orientierung verlor. Und schließlich auf Menschen traf, die ihm mitteilten, er sei wieder in Serbien. Wie er in Wien in den Zug nach Berlin stieg – endlich geschafft. Blöderweise fährt der Zug über Tschechien, Z. wird aus dem Zug geholt. Wieder Gefängnis.

Gestern wurden im Haus im Park in Hamburg-Bergedorf Flüchtlingsbiografien vorgelesen. Wer Deutsch konnte, las sie selbst vor. Wir kamen mit neun der hiesigen ZEA-Bewohner, saßen ganz hinten und übersetzten. Die Geschichte eines Jungen aus Eritrea wurde vorgelesen, hinter mir übersetzte eine Deutsche – für einen jungen Mann aus Eritrea.

„He had to get on a small boat with 200 people“, übersetzt sie, „it was really crowded.“

„I know“, antwortet er. „I’ve done that.“

Gruselige Momente, die durch Musikeinlagen unterbrochen werden. Das Klavier ist nicht optimal gestimmt, aber Musik ist willkommen, zu lang war sie verboten. Doch es gibt auch andere Musikdarbietungen, eine davon für meine Stimmung unpassend. Ich bin mit meiner Meinung nicht allein und so fühle ich mich veranlasst, Z., der sich vor Vergnügen krümmt, das wunderschöne deutsche Wort „fremdschämen“ beizubringen. Später leider auch noch „Ohrwurm“, denn wir können nicht vergessen, was wir gerade gehört haben.

In dem Fall ist es belustigend, dass wir nicht vergessen können.

[Du möchtest Flüchtlingen helfen und weißt nicht wie? Informier Dich, ob es in Deinem Ort schon eine Initiative gibt und schließ Dich an.]

2 Kommentare
  1. Ulrike sagte:

    Beim Lesen deines Post frage ich mich spontan, hast du eigentlich noch Kontakt zu Mustafa und seiner Familie? Wenn ja, wie geht es ihnen?

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