Der furchtbarste Tag – Leni bloggt (5)

Mit jedem Meter werden die Straßen voller. Nicht, dass das möglich wäre. Von rechts und links drängen sich weitere Fahrzeuge in den Treck, genau so, wie wir es gestern fluchend und schubsend getan haben.

Diese Fahrt ist die Hölle. Wir sind für den Nieselregen und die niedrigen Temperaturen dankbar, der Gestank ist so schon schlimm genug. Die Kinder schlafen auf dem Wagen, wir „Großen“ haben uns die Nacht über wachgehalten, um voranzukommen. Es ist entwürdigend, an den Straßenrand zu machen, aber man muss sein Hab und Gut im Auge behalten. Ich zähle die Stunden, die wir noch auf dieser Straße verbringen müssen. Doch das Tempo wird immer langsamer und so vervielfachen sich die Stunden, statt sich zu verringern.

Von allen Seiten kursieren Gerüchte. Hitler soll tot sein. Tiefflieger würden die Trecks angreifen.

„Warum tun die so was?“, höre ich eine Frau fragen. „Wir haben ihnen doch nichts getan!“ Ich mustere sie. Sie wendet sich ab und stimmt mit ihrem Sohn das Panzerlied an. Ob Hitler wirklich tot ist? Wir sehen Kinder, die ohne Eltern unterwegs sind. Es heißt, ihre Mutter habe sich umgebracht. Meine Kinder sind vier, sechs, sieben und gerade mal ein Jahr alt. Um mehr kann ich mich nicht kümmern. Ich weiß ja auch gar nichts über sie.

Meine Großen schieben Hans im Kinderwagen neben dem Fuhrwerk her, so sind sie beschäftigt. Ein Kind schiebt, die beiden anderen heben den Wagen über die Hindernisse. So haben alle vier Spaß und sind abgelenkt.

Es wird Abend. Nach zwei Tagen sind wir nicht einmal 50 km von zu Hause entfernt, es ist wirklich unerhört. Ich berate mich mit Paulina und der Gärtnerin, ob wir versuchen sollen, für die Nacht auf dem Gut von Dr. Paul unterzukommen.

„Wir sind erst zwei Tage unterwegs, wir können uns morgen ausruhen“, sagt Paulina. „Es ist nicht gut, hierzubleiben.“ Wir verladen die Kinder wieder, sie sollen ein bisschen schlafen. Ich halte Ausschau nach Dr. Paul, als wir auf Höhe des Gutes sind, doch in dem Gedränge kann ich niemanden entdecken.

Dröhnen. Schüsse, Schreie. Tiefflieger!

Aus den Wagen! Alles strömt zu den Gebäuden, in die Gräben, an die Häuserwände. Ich stürze mit meinen drei großen Kindern in den Pferdestall, Hans bleibt im Kinderwagen auf dem Wagen liegen, ich kann ihn nicht mitnehmen. Noch über das Geschrei der Großen höre ich ihn brüllen.

Nach kurzer Zeit ist der Spuk vorbei und wir wagen uns aus der Deckung.

Wir drängeln uns in Richtung Treck, ich will zu Hans! Am Gutstor treffen wir unsere Gärtnerin, Paulina ist schon am Treck. Im selben Moment kommen die Flieger zurück.  „Schnell, wir bleiben hier und stellen uns unter den Baum an der Mauer“, ruft die Gärtnerin. Und da sitzen wir zusammengeduckt aneinander und lassen uns abknallen. Ich spüre, wie die Gärtnerin lautlos neben mir zusammensackt, während mich ein scharfer Schmerz in den rechten Arm beißt. Die Kinder schreien wie am Spieß, ich sehe überall Blut. Sie schreien, also leben sie! „Steht auf!“, brülle ich, doch nur der sechsjährige Klaus kann noch gehen, Helene und Christian schleppe ich unter die Wagenremise.

Ich schreie Menschen an, dass sie die Gärtnerin auch zu mir bringen und fange die Militärärzte ab, die ohnehin hier ihr Quartier haben. Sie verbinden uns und wir werden ins Haus gebracht. Wo ist Hans, wo ist Paulina? Leben sie noch?

„Sie wird höchstens noch eine Stunde leben“, höre ich es neben mir sagen. Es ist der Arzt, der die Gärtnerin untersucht hat, die besinnungslos neben mir auf dem Boden liegt. „Aber retten Sie Ihren Sohn!“ Den wimmernden Christian halte ich im Arm, er ist an Kopf, Lunge und Hand verletzt. „Bringen Sie ihn nach Schwerin“, sagt der Arzt. „Beeilen Sie sich!“

Irgendwie bekomme ich einen Wagen organisiert, da taucht Paulina mit Hans im Arm auf. „Lassen Sie ihn mit dem Kinderwagen hier und fahren Sie weiter“, rufe ich ihr zu. „Ich kann ihn doch mitnehmen“, sagt sie, aber ich möchte ihn nicht so lang alleine lassen, von Schwerin aus kann ich ihn hier in ein paar Stunden holen und dann fahren wir zusammen weiter nach Hamburg. Wenn er mit Paulina irgendwo vor uns im Treck ist, treffe ich ihn erst in Hamburg wieder.

„Der Wagen ist bereit, steigen Sie ein!“, werde ich ermahnt. Die Gärtnerin darf nicht mit, „es ist hoffnungslos“, und so gebe ich dem brüllenden Hans einen Kuss und quetsche mich mit den drei heulenden großen Kindern in den Militärwagen.

Die Straße ist natürlich nach wie vor verstopft, überall brennen Wagen, es ist stockfinstere Nacht, keiner darf mit Licht fahren, wegen der dauernden Flieger. Auch im Wagen ist es dunkel, neben mir stöhnt Christian, dem ich nicht die geringste Hilfestellung geben kann, da mein rechter Arm durch die Verwundung vollkommen unbeweglich und sehr schmerzhaft ist.

Dann stöhnt er nicht mehr.

Mein Kind stirbt neben mir, ohne dass ich es sehen, noch ihm helfen kann.

Dann hat der Wagen eine Panne und wir liegen die ganze Nacht auf der Chaussee. Bei jedem Fliegergeräusch bekommen die Kinder wieder Angst. Wie soll ich sie beruhigen, wenn ihr toter Bruder neben uns liegt?

Dieser Text ist teilweise wörtlich aus den Briefen von Leni und Friedrich erstellt, den Rest habe ich mir zusammengereimt. Doch auch Friedrich hatte es an diesem Tag nicht leicht. Nach monatelangen Nah- und Straßenkämpfen bei Arnswalde liegt seine Truppe zum Zeitpunkt der Kapitulation am 1.5. in Fehrbellin und Friedrich gerät in russische Gefangenschaft.

 

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